Windenergie oder Wanderfalke: Das Bundesgericht spricht ein Urteil im Interessenkonflikt von Klima- und Biodiversitätsschutz

Windenergieanlagen verursachen Schlagopfer unter Vögeln und Fledermäusen. (Bild: patmueller/Pixabay)

Es ist einer der grossen Konflikte unserer Zeit. Und es ist ein Konflikt, der auch die Umweltschützer zu spalten droht: Wie vertragen sich die Erfordernisse des Klimaschutzes mit denjenigen des Biodiversitätsschutzes?

Der Umbau des Energiesystems weg von der fossilen Energie geht einher mit einem massiven Ausbau der erneuerbaren Energien. Beispielhaft zeigt sich dies beim Bau von Windkraftwerken. Da kommen sich Klima- und Vogelschützerinnen regelmässig in die Quere. (Was nicht ausschliesst, dass die (meisten) Klimaschützer auch Vogelschützer sind – und umgekehrt. Das lässt die Konflikte aber nicht verschwinden.)

Ein Schauplatz dieses Streits liegt auf dem Grenchenberg im Schweizer Jura.

Dort planten die Städtischen Werke Grenchen sechs Windenergieanlagen. Dies missfiel den Vogelschützern, die Beschwerde einlegten und bis vor das Bundesgericht gelangten. Das höchste Gericht der Schweiz hat sein Urteil bereits im vergangenen November gefällt. Doch nun liegt die schriftliche Begründung vor. Sie liest sich wie die Blaupause für den Umgang mit der Klima- und Biodiversitätskrise.

Der Konflikt wird im konkreten Fall klar benannt: „Der geplante Windpark mit sechs Windenergieanlagen hat unstreitig negative Auswirkungen auf Vögel und Fledermäuse (…). Neben dem Risiko der Kollision mit den Rotoren (für Zugvögel, Fledermäuse und gewisse lokale Vogelarten, namentlich den in der Wandfluh nistenden Wanderfalken) kommt das Risiko des Lebensraumverlusts und der Verhaltensänderung für Arten hinzu, die sensibel auf die Störung und die Veränderung von Lebensräumen reagieren (inbes. Heidelerche, Auerhuhn, Haselhuhn, Waldschnepfe).“

Grundsätzlich hält das Bundesgericht fest: „Dem Ausbau erneuerbarer Energien kommt vor dem Hintergrund des Klimawandels eine herausragende Bedeutung zu. Dieser stellt eine akute und potenziell irreversible Bedrohung für menschliche Gesellschaften und den Planeten dar.“

Und auf der anderen Seite: „Die biologische Vielfalt und die Leistungen von Ökosystemen wie Nahrung, sauberes Wasser und Medizin (sog. Ökosystemleistungen) sind für das Überleben der Menschheit essenziell (…) Der Zustand der Biodiversität hat sich in den letzten Jahrzehnten rapide verschlechtert. (…) Die Lage der Biodiversität ist auch und gerade in der Schweiz unbefriedigend.“

Wie wenn diese widerstreitenden Interessen nicht schon genug wären, kommt noch ein drittes Konfliktfeld hinzu: der Landschaftsschutz.

Im betreffenden Fall seien die Windenergieanlagen „sehr deutlich wahrnehmbar“ und bildeten „einen starken Kontrast zur ansonsten ruhigen und wenig besiedelten Erholungslandschaft“, schreibt das Bundesgericht. Dem trugen die Planer der Windenergieanlagen durchaus Rechnung und verkleinerten die Höhe der Anlagen – und gerieten so prompt mit dem Artenschutz in Konflikt: Denn indem die Rotoren nun auf geringerer Höhe ihre Runden drehen sollen, erhöht sich die Kollisionsgefahr für tieffliegende Brutvögel und Fledermäuse.

Im Einzelfall entscheiden

Was also ist zu tun, um die Konflikte zu lösen? Welche Interessen überwiegen? Diejenigen des Vogel- und Fledermausschutzes? Oder geht das Interesse an der Produktion erneuerbarer Energien vor?

Das Bundesgericht schreibt, dass die Interessenabwägung im Einzelfall vorzunehmen sei. Das eine Interesse geht nicht automatisch dem anderen vor: „Ziel der Interessenabwägung ist es, das Projekt so zu optimieren, dass alle Interessen möglichst umfassend berücksichtigt werden (…). Zwar kann es bei Unvereinbarkeiten dazu kommen, dass ein Interesse bevorzugt und das andere zurückgestellt wird; anzustreben ist jedoch eine ausgewogene Lösung, die den beteiligten Interessen ein Maximum an Geltung einträgt und ein Minimum an Wirkungsverzicht aufnötigt (…). Für die Windenergienutzung ist somit anzustreben, die Anlagen so zu erstellen und zu betreiben, dass das Risiko von Kollisionen und Lebensraumstörungen auf ein für den Biotop- und Artenschutz verträgliches Mass herabgesetzt wird und die verbleibenden Beeinträchtigungen durch Ersatzmassnahmen kompensiert werden, ohne die Nutzung der erneuerbaren Windenergie zu verunmöglichen.“

Das Bundesgericht scheute keine Mühen und liess zusätzlichen zu den bereits bestehenden Gutachten weitere wissenschaftliche Abklärungen zum Vogel- und Fledermausschutz durchführen. Die Erkenntnisse werden im Urteil detailliert geschildet, das sich teilweise wie eine biologische Studie liest.

Die neuen Gutachten hatten entscheidenden Einfluss auf das Urteil. Denn es zeigte sich, dass viele Fragen rund um die potenziellen Gefahren von Windenergieanlagen auf Vögel und Fledermäuse noch offen sind.

Platzende Organe

So weist das Bundesgericht auf die Problematik des sogenannten Barotraumas hin. Wegen Druckunterschieden in der Nähe von Rotoren besteht die Gefahr, dass die Organe der Fledermäuse platzen und sie innerlich verbluten. Hier bestehe noch Forschungsbedarf, schreibt das Bundesgericht.

Solche offene Fragen verlangen zusätzliche Vorsicht in der Interessenabwägung. Sei die Fledermausmortalität wesentlich unterschätzt worden, so müssten die Massnahmen, um Fledermausopfer zu verhindern, nachträglich angepasst werden – und zwar „ohne dass dies zu Entschädigungsansprüchen wegen mangelnder Rentabilität führen kann“.  

Doch wie kommen nun die Interessen des Klimaschutzes ins Spiel? Lohnt sich ein Betrieb des Windparks überhaupt noch, wenn auf alle Interessen des Biodiversitätsschutzes Rücksicht genommen werden muss?

Nein, meint das Bundesgericht: Die Artenschützer „halten einen strengeren Abschaltplan nachts zum Schutz lokaler Fledermausarten (von April bis Mitte November) für notwendig; ihrer Ansicht nach müssten zudem die Windturbinen auch tagsüber abgeschaltet werden, im Frühling und Herbst (insgesamt 5 Monate) zum Schutz migrierender Vögel und im Sommer zum Schutz der lokalen Greifvögel (Wanderfalke, Rotmilan). Es liegt auf der Hand, dass unter diesen restriktiven Voraussetzungen kein wirtschaftlicher Betrieb des Windparks möglich wäre; dazu bedarf es keiner Expertise.“

Die eigentliche Frage sei daher, „mit welchen Auflagen der Windpark bewilligt werden kann und wie sich dies auf die Rentabilität und den Stromertrag des Projekts auswirkt“.

Die Betreiber des Windparks versprechen, die unvermeidlichen Beeinträchtigungen von Natur und Landschaft auf ein Minimum zu reduzieren: Aus ihrer Sicht „überwiege das energiepolitische Interesse das Interesse bezüglich Landschafts-, Natur- und Tierschutz. Die Vogelmortalität durch Windkraftanlagen sei im Vergleich zu anderen Gefahren (z.B. Katzen, Kollisionen mit Fenstern, Starkstromleitungen) minim. Es könne nicht bei umweltfreundlichen Windparkprojekten eine Nulltoleranz gefordert werden, während z.B. Häuser mit Glasfassaden oder Wintergärten ohne Auflagen zum Vogelschutz genehmigt würden.“

Den Bundesrichtern obliegt die nun Abwägung: „Für die Windenergienutzung ist somit anzustreben, die Anlagen so zu erstellen und zu betreiben, dass das Risiko von Kollisionen und Lebensraumstörungen auf ein für den Biotop- und Artenschutz verträgliches Mass herabgesetzt wird und die verbleibenden Beeinträchtigungen durch Ersatzmassnahmen kompensiert werden, ohne die Nutzung der erneuerbaren Windenergie zu verunmöglichen.“

Kein vollständiger Schutz

Und so kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass der „Konflikt zwischen Windenergienutzung und dem Vogel- und Fledermausschutz (…) namentlich durch Abschaltsysteme entschärft werden“ könne. Damit bewirke man „eine zeitliche Entflechtung zwischen der Nutzung der Windenergie und der Zugvogel- bzw. Fledermausaktivität“. Zudem müsse ein aufwendiges Monitoring durchgeführt werden, um Schlagopfer aufzuspüren.

Allerdings könne der Windpark auch mit solchen Massnahmen immer noch zum Verhängnis von Wanderfalken und Heidelerchen werden, zwei Arten von nationaler Priorität. Diese könnten nur mit dem Verzicht auf den Windpark vollständig geschützt werden. Das aber widerspreche dem Interesse am Ausbau der Windkraft als erneuerbare Energie.

Anders gesagt: Einige Opfer beim Artenschutz sind in Kauf zu nehmen.

Aber nicht alle. Denn das Bundesgericht untersagt die Genehmigung von zwei der insgesamt sechs Windenergieanlagen. Denn diese lägen „nur rund 350 m bzw. 700 m vom Wanderfalkenhorst entfernt und unterschreiten damit deutlich den Mindestabstand von 1000 m, der von der Vogelwarte Sempach als unterste, aus Sicht des Vogelschutzes noch vertretbare Grenze qualifiziert wird“.

Während das Bundesgericht bei der Gesamtbeurteilung des Windparks einige Opfer in Kauf nimmt, bleibt es im Fall der zwei Anlagen, die zu nahe an Brutplätzen liegen, hart. Das Urteil habe präjudizielle Wirkung: „Würden am Grenchenberg Windenergieanlagen in unmittelbarer Nähe eines Wanderfalkenhorsts bewilligt, ist zu befürchten, dass auch künftige Projekte der Region keine Rücksicht auf Wanderfalkenstandorte nehmen. Dies würde das Risiko der Kollision vervielfältigen und könnte zum rapiden Rückgang der Wanderfalkenpopulation führen.“

Kein untragbar kumulatives Risiko

So schliesst das Bundesgericht: „Anzustreben ist (…), dass jeder Windpark so ausgelegt und betrieben wird, dass kein untragbares kumulatives Risiko entsteht, auch wenn weitere Anlagen in der Region erstellt werden. Nur unter dieser Voraussetzung entspricht die Windkraftnutzung den Vorgaben des Nachhaltigkeitsprinzips (Art. 73 Bundesverfassung), das ein auf Dauer ausgewogenes Verhältnis zwischen der Natur und ihrer Erneuerungsfähigkeit einerseits und ihrer Beanspruchung durch den Menschen anderseits anstrebt.“

Wie genau es nun mit dem geplanten Windpark weitergeht, ist offen. Die Städtischen Werke Grenchen nahmen noch keine Stellung zum schriftlichen Urteil. Birdlife Schweiz wies im vergangenen Jahr darauf hin, dass die Richtplanung für Windparks sorgfältiger erfolgen müsse. Die Vorkommen von gefährdeten Fledermaus- und Vogelarten müssten ausreichend und frühzeitig dokumentiert und die Auswirkungen von Windpärken auf sie berücksichtigt werden. „Damit könnten unnötige Aufwände auf allen Seiten vermieden werden.“

© Markus Hofmann

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