
Im Nationalrat des Schweizer Bundeshauses versammeln sich nicht nur die Nationalräte, sondern manchmal auch die Ständeräte – dies immer dann, wenn die Vereinigte Bundesversammlung einberufen wird; zum Beispiel bei der Wahl eines Bundesrates. Die Ständeräte, die die Kantone vertreten, nehmen auf den ihnen zugewiesenen Plätzen an der hinteren Saalwand Platz. Über den Ständevertretern prangen die jeweiligen Kantonswappen, prächtig geschnitzt in Eichenholz, und oberhalb der Rückenlehnen sind ebenso kunstvolle Flachschnitzereien angebracht.
Dazu heisst es in der offiziellen Broschüre über das Parlamentsgebäude: „Die Rücklehnen der Sitze hat der Deutsche Ferdinand Huttenlocher mit Schnitzereien einheimischer Blumen und Tiere kunstvoll verziert.“
Einheimische Blumen im Schweizer Parlament. Das ergibt Sinn. Doch es trifft nicht zu.
Ferdinand Huttenlocher, der zwischen 1856 und 1926 lebte und in der Schweiz als Kunstlehrer tätig war, meinte zu seiner Motivwahl, dass sie der heimischen Tier- und Pflanzenwelt entnommen worden seien. Schaut man aber mit dem Blick der Botanikerin auf die Ständeratssitze, die um 1900 entsanden sind, sieht die Bilanz ganz anders aus. Lediglich die Hälfte der geschnitzten ständerätlichen Pflanzen sind einheimische Wildpflanzen, nämlich 24 von 48.

Dies weist die Biologin Rosemarie Honegger im neuen Neujahrsblatt der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich nach. Sie hat sich die Schnitzereien genau angesehen und die verschiedenen Pflanzenmotive nicht nur bestimmt, sondern sie auch in einen wissenschafts- und kulturhistorischen Zusammenhang gestellt sowie einige Ungenauigkeiten bei den Darstellungen aufgedeckt.
In vielen Fällen haben die Pflanzen auch gar nichts mit den ihnen zugeordneten Kantonen zu tun. So spriessen etwa unter dem Wappen der beiden Appenzell die Zierpflanzen Kapuzinerkresse und Balkongeranie; beides nicht gerade typisch „appenzellerische“ Gewächse. Der Gelbe Enzian, Bestandteil des Appenzeller Alpenbitters, wäre ein ideales Motiv gewesen.
Viele Pflanzen, die man in der Schweiz hingegen typischerweise antrifft, fehlen gänzlich, so etwa die Lärche, Rot- und Weisstanne, die Eibe sowie die Buche. Auch die hierzulande so beliebten Linden kommen nicht vor. Für noch mehr Stirnrunzeln sorgt die Abwesenheit von Alpenpflanzen. Und das in der Schweiz! Lediglich Edelweiss und Schwalbenwurzenzian sind vorhanden. Und die Alpenrose? Fehlanzeige. Dasselbe gilt für weitere hier heimische Pflanzen wie Türkenbund, Feuerlilie, Eisenhut oder den Frauenschuh. Dafür taucht an den Genfer Ständeratssitzen eine Braunalge auf. Diese kommt nicht etwa im Genfersee, sondern im Meer vor.
Darüber, wieso sich Huttenlocher für eine derartige Zurordnung der Arten entschied, lassen sich lediglich Mutmassungen anstellen. Ihm war die Ästhetik wohl wichtiger als die botanische Stringenz.
Zumindest aus heutiger Sicht lässt sich in diese Pflanzensammlung eine politische Botschaft hineininterpretieren, ist doch die Schweizer Bevölkerung mittlerweile fast so bunt zusammengesetzt, wie die Ständeratssitze mit Pflanzen aus allen Weltgegenden geschmückt sind.
Rosmarie Honegger: Berner Bundeshausbotanik. Die Ständeratssitze im Nationalratssaal. Neujahrsblatt der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich NGZH, Zürich 2018.
© Markus Hofmann