Wie man mitten in der Grossstadt aus der Menschenwelt ausbrechen kann

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Eine Frau und ein Mann schauen uns mit fragend-spöttischem Blick an. Unsere Ferngläser sind nach oben gerichtet. Obwohl der Oktober gerade erst begonnen hat, hat es in der Nacht geschneit. Hier oben, auf einem Pass in den Berner Alpen, liegt die Landschaft unter einer weissen Decke begraben. Langsam bricht die Sonne durch die Wolken. Herrliches Ausflugswetter. Während sich das Paar für einen Spaziergang auf den verschneiten Wegen rüstet, haben wir, eine Gruppe von Vogelbeobachtern, nur Augen für den Himmel. Der Mann tritt an uns heran und fragt, was wir sehen würden.

Wir sehen: das Offensichtliche. Hunderte von Zugvögeln – Finken, Tauben, Drosseln, Greifvögel – fliegen vom Norden her teilweise nur wenige Meter über unseren Köpfen in Richtung Mittelmeer. Die beiden Wanderer legen ihre Köpfe in den Nacken. Und jetzt erkennen sie auch, was wir sehen: die vielen schwarzen Punkte, die in stetigem Auf und Ab über den weißen Bergrücken navigieren. Man spürt förmlich, wie die beiden etwas gewahr werden, was sie nie zuvor beachtet haben.

Mit einem entspannten Lächeln im Gesicht verabschieden sie sich bald wieder von uns und machen sich auf den Weg in die winterliche Landschaft. Über ihnen und uns ergießt sich weiterhin ein schier endloser Strom von Vögeln in den Süden. Eines der spektakulärsten Naturereignisse spielt sich hier vor aller Augen ab – und doch sehen es nur wenige.

Um einen Blick in die Welt der Vögel zu werfen, muss man aber gar nicht die Mühe auf sich nehmen, während des Vogelzugs auf einen Pass zu steigen. Denn Vögel sind immer und überall. Jederzeit erlauben sie es einem, sich bewusst zu werden, dass „da Draußen“ noch etwas anderes ist als die Menschenwelt; etwas, das nach eigenen Gesetzmäßigkeiten abläuft und uns wohl nie alle seine Geheimnisse preisgeben wird. Diese Erfahrung – diesen Ausbruch aus der Menschenwelt – kann man paradoxerweise auch am menschlichsten aller Orte machen, mitten in der Stadt.

Der amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen („Die Korrekturen“, „Freiheit“, „Unschuld“) hat in seinem autobiografischen Buch „Die Unruhezone“ beschrieben, wie ihm zwei Vogelbeobachter im Central Park von New York die Augen für eine neue Welt öffneten, als sie ihn auf einen Vogel aufmerksam machten. Franzen schreibt: „Es war eigenartig, eine fremdländische, nicht eben berühmte Wilson-Drossel vor aller Augen, anderthalb Meter entfernt von einem belebten Fussweg, herumhüpfen zu sehen, an einem Tag, an dem sich halb Manhattan im Park sonnte. Mir war, als hätte ich mein ganzes Leben etwas Wichtiges verkannt.“

Nun war es um ihn geschehen. Franzen ist zu einem fanatischen Vogelbeobachter (und Vogelschützer) geworden. „Je häufiger ich Vögel beobachtete“, so schreibt er weiter, „desto mehr bedauerte ich, ihre Bekanntschaft nicht schon früher gemacht zu haben.“ Die Vogelbeobachtung an den verschiedensten Orten, im dichten Unterholz oder an einer Felsenküste, weckte in ihm „den Glauben, dass die Welt voller Möglichkeiten war“.

Es muss kein seltener Vogel sein, um das Tor in die Welt voller Möglichkeiten aufzustoßen. Um – wenn auch nur für kurze Zeit – aus dem Kokon der Menschenwelt auszubrechen, genügen alltägliche Beobachtungen. Sei es an einer langweiligen Geschäftssitzung, wenn der Blick weg von der Power-Point-Präsentation hinaus aus dem Fenster schweift und man das typische Flugmuster eines Buntspechts erkennt: Flügelschlagen, Gleiten, Flügelschlagen, Gleiten. Oder wenn man während eines Fussballmatches, das sich ereignislos dahinschleppt, die Zeit damit vertreibt, zwei jungen Rabenkrähen zuzuschauen, die sich entlang des Stadiondachs spielerisch nachjagen. Oder wenn man auf dem Weg zur Arbeit eine Kohlmeise hört, die gegen den Verkehrslärm ansingt.

Solche Erlebnisse und die Suche nach ihnen können zur Sucht werden. Mögen die ersten Entdeckungen zufällig sein, mit der Zeit sind die eigenen Sinne ständig wach, um ja nichts zu verpassen. Eine verdächtige Bewegung in einem Baum. Ein Schatten, der im Augenwinkel aufsteigt. Ein heller Flecken auf einem Gewässer. Kurzes Innehalten. Den Blick schärfen. Die Ohren spitzen. Und: Elster, Hausrotschwanz, Haubentaucher. Oder: ein Blatt, eine Sinnestäuschung, eine Boje. Der Schalter des Vogelbeobachtens steht nie auf „Off“, sondern immer auf „Standby“.

Das Vogelbeobachten erlaubt eskapistische Abenteuer, die einen für ein paar Augenblicke in eine fremde Welt katapultieren. Es genügt, dafür die Sinne zu öffnen. Und ab und zu in den Himmel zu schauen.

© Markus Hofmann

(Dieser Essay erschien auf RiffReporter.)

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