Artenarme Literatur: Seit den 1830er Jahren nimmt die Biodiversität in literarischen Werken ab

(Bild: Mystic Art Design / Pixabay)

Der Peak ist eindeutig: Bis 1835 nimmt die Vielfalt an taxonomischen Begriffen in der Literatur zu. Anschliessend geht sie wieder zurück. Dies geht aus einer bisher einmaligen Untersuchung hervor.

Deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben 16.000 literarische Werke von 4000 Autoren – darunter etwa Johann Wolfgang von Goethe, Victor Hugo oder Jules Verne -, die zwischen 1705 und 1969 erschienen sind, auf 240.000 taxonomische Begriffe untersucht. Als Datengrundlage dienten ihnen im „Project Gutenberg“ digitalisierte Werke in englischer Originalsprache beziehungsweise in Übersetzungen. Mithilfe computergestützter Analysemethoden schauten sie also, wo und in welcher Häufung und Verteilung Begriffe wie „horse“, „wolf“, „apple“, „elm“ (Ulme) oder „ivy“ (Efeu) vorkommen.

Das Resultat zeigt sich Form eines Buckels: Während bis in die 1830er Jahre die Häufigkeit, Dichte und Ausdrucksvielfalt der Artbegriffe ansteigt, nimmt sie anschliessend wieder ab. So verwendeten die Schriftstellerinnen und Schriftsteller beispielsweise vor den 1830er Jahren vermehrt präzise Artbegriffe. Auch regional gefärbte Begriffe waren gebräuchlicher. Danach aber wichen sie auf allgemeinere Begriffe aus: Statt von der „Eiche“ ist dann schlicht vom „Baum“ die Rede. Auch verdrängen domestizierte Tierarten die Wildtierarten.

Was sich also in der realen Welt abspielt, widerspiegelt sich auch in der Literatur: eine Verarmung der Natur.

Aufbäumen der Romantik

Die Zunahme an Artbegriffen bis in die 1830er Jahre fällt mit der Zeit der Entdeckungen und der Aufklärung zusammen. Die „exotische“ Natur fremder Länder wurde entdeckt, beschrieben und kolonialisiert. Und so fanden auch neue Begriffe wie „Banane“ Aufnahme in die eigene Literatur. Die Aufklärung mit ihrer Betonung von Wissenschaft und Bildung trug ebenfalls dazu bei, die Natur exakt zu beschreiben.

Die Industrialisierung und Urbanisierung drehen anschliessend diese Entwicklung. Die damit einhergehende Entfremdung der Menschen von der Natur beginnt sich in der Literatur abzubilden.

Doch es gibt Widerstand: Die „proto-ökologische“ Romantik lehnt sich dagegen auf. Mit ihrem Ende um 1835 setzt das kontinuierliche Artensterben in der Literatur ein.

Rückkehr der Natur in die Literatur?

Die Studie hat Werke, die bis 1969 erschienen sind, unter die Lupe genommen. Interessant wäre es nun, die letzten Jahrzehnte bis heute ebenfalls noch zu untersuchen, ist doch seit einiger Zeit das „Nature Writing“ auch ausserhalb des englischen Sprachraums, wo es eine vergleichsweise starke Tradition hat, beliebt geworden. Der Verlag Matthes & Seitz ist hier besonders engagiert und hat eine eigene Reihe gegründet.

Wie in der Romantik ist das neue „Nature Writing“ auch eine Reaktion auf den Verlust: auf das beschleunigte Artensterben. Die Literatur stillt das Bedürfnis der Menschen nach Natur und verrichtet gleichzeitig Trauerarbeit: die Erinnerung an die Ausgestorbenen.

PS: Der am häufigsten verwendete taxonomische Begriff ist „horse“, gefolgt von „tree“, „dog“ und „bird“.

PPS: Die Autorin mit dem reichsten taxonomischen Vokabular ist Charlotte Mary Yonge, eine Bestseller-Schriftstellerin des Viktorianischen Zeitalters. Sie veröffentlichte in der Zeit, als die literarische Artenvielfalt bereits im Niedergang begriffen war.

© Markus Hofmann

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