Eine Welt ohne Menschen: Wie es darin den Vögeln ergehen würde

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Wer sich mit der rasant schwindenden Biodiversität und dem Naturschutz beschäftigt, kann einen Hang zur Misanthropie entwickeln. Mir zumindest geht es so.

Die Vorstellung, wie die Welt wohl aussehen würde, gäbe es keine Menschen, übt einen gewissen Reiz aus.

Meisterhaft umgesetzt hat diese Vision Alan Weisman in seinem Buch „Welt ohne uns“. Darin spielt Weisman die Idee durch, was mit der Erde geschehen würde, wenn der Mensch plötzlich nicht mehr da wäre.

Etwas Ähnliches haben nun Ornithologinnen und Ornithologen durchgerechnet. Sie stellten sich die Frage: Wie ginge es den Vögeln in Grossbritannien, wenn dort keine menschlichen Veränderungen an der Landschaft vorgenommen worden wären? Welche Arten profitierten, welche nicht? Ihre Studie ist soeben in „Ecological Indicators“ erschienen.

Kaum mehr Wald

In Grossbritannien, der Wiege der Industrialisierung, ist kaum eine Ecke vom Menschen unberührt geblieben. Was als „typisch“ britische Landschaft gepriesen wird, ist menschengemacht. Die Wälder wurden grossflächig gerodet. Über die Hälfte der Landwirtschaft wird genutzt als Ackerfläche oder Weide. Moorlandschaften, die ebenfalls beweidet werden, machen rund 15 Prozent aus. Dagegen ist der natürliche Laubwald stark geschrumpft, natürliche Feuchtgebiete im Innern des Lands sucht man fast vergeblich, und bei den Küstenfeuchtgebieten sieht es noch düsterer aus.

Ganz anders das Modell eines Menschen-freien Grossbritanniens aus: Da schnellt der Anteil des Laubwaldes auf 57,5 Prozent in die Höhe, inländische Feuchtgebiete nehmen 18,4 Prozent der Fläche ein und Küstenfeuchtgebiete 8,6 Prozent. Dafür sinkt der Anteil der Moorlandschaften auf 7 Prozent.

Was bedeutet das nun für die Vogelarten Grossbritanniens?

Nun, auch hier gilt: Es kommt drauf an.

Die Forscherinnen und Forscher haben sich 166 in Grossbritannien vorkommende Vogelarten genauer angeschaut. 69 von diesen profitieren von den menschengemachten Veränderungen, das heisst, ihre Verbreitung im Vergleich zu einer vom Menschen unveränderten Landschaft ist grösser. Dies trifft zum Beispiel auf die Dohle zu. 15 von diesen Arten kämen in einem menschenfreien Grossbritannien gar nicht vor.

50 Arten weisen mehr oder weniger gleich grosse Verbreitungsgebiete aus. Und 47 Vogelarten hätten ohne den Menschen ein grösseres Verbreitungsgebiet. Das heisst: Derzeit können sie ihr Potenzial nicht entfalten. 16 Arten, die derzeit sehr selten oder gar nicht vorkommen, hätten die Chance, sich verstärkt auszubreiten. Dazu gehören etwa der Seeregenpfeifer, der Orpheusspötter oder der Regenbrachvogel.

Es liegt auf der Hand, dass Kulturlandvögel insgesamt von der menschengemachten Land profitieren. Anders sieht es bei den Vögeln des Hochlandes aus wie etwa dem Steinadler. Denen ginge es ohne den Menschen besser.

Auffällig ist auch, dass einige Vogelarten, die nicht als gefährdet eingestuft werden, eine viel geringere Verbreitung aufwiesen, als es eigentlich ihrem Potenzial entsprechen würde. Sie laufen dadurch Gefahr, durch die Maschen des üblichen Schutzstatus-Rasters zu fallen. Einige dieser Arten, wie zum Beispiel der Seidenreiher, gewinnen zwar wieder an Ausbreitung. Doch diese ist stark abhängig von Naturschutzbestrebungen wie etwa der Renaturierung von Feuchtgebieten.

Shifting Baseline Syndrom

Den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geht es aber nicht nur darum, aufzuzeigen, wie Vögel auf eine menschenlose Landschaft reagieren. Sie stellen auch grundsätzliche Fragen zum Naturschutz.

Dieser hat nämlich mit einem nicht zu unterschätzenden Problem zu kämpfen: Mit welcher „Natur“ vergleicht man den Jetztzustand, den man verändern, also zum Beispiel „Re-Naturieren“, will? Wie weit schaut man historisch zurück? 50, 100, 500 Jahre – oder noch weiter? Hier eine Zeitgrenze zu setzen, mutet willkürlich an.

Zudem tritt noch ein Syndrom auf: das „Shifting Baseline Syndrom“. Mit der Veränderung von Umweltbedingungen kommt es auch zu einer Veränderung der Umweltwahrnehmung. Was früher aufgefallen wäre, erscheint heute als normal. So nehmen ältere Umweltforscher den Rückgang von Arten deutlicher wahr als ihre jüngeren Kolleginnen, die den grösseren Artenreichtum nie selbst erlebt haben. Dieses Syndrom führt dann zu Verzerrungen im Naturschutz: Man erachtet einen Naturzustand als erhaltenswert, der im Vergleich zu einem früheren eigentlich deplorabel ist.

Wer profitiert? Wer verliert?

Aber das Syndrom wirkt auch in die andere Richtung. Um beim obigen Beispiel zu bleiben: Die weite Verbreitung der Dohle in Grossbritannien ist dem Menschen zu verdanken. „Natürlicherweise“ wäre sie viel weniger häufig. Muss man nun auf gewisse Renaturierungsmassnahmen verzichten, um diese Verbreitung zu erhalten?

Der Naturschutz hat mit gegenläufigen und nicht einfach zu lösenden Interessen zu kämpfen. Mit dem Ansatz, das potenzielle Verbreitungsgebiet von Arten unter Berücksichtung einer menschenfreien Welt zu erschliessen, hoffen die Verfasserinnen und Verfasser dieser Studie, den Naturschützern ein alternatives Werkzeug an die Hand zu geben. Gerade für Naturschutz-Projekte, bei denen man nicht auf historisch valable „Baselines“ zurückgreifen kann (was oft der Fall ist), scheint dieses Modell Vorteile zu bieten.

© Markus Hofmann

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