Furchterregende Drosseln, weltweit operierende Mauersegler-Gangster und der Zaunkönig als Alarmanlage des Unterholzes: Vogelgedichte von Ted Hughes

Reiche Beute: Eine Wacholderdrossel mit Regenwürmern. (Bild: J_Blueberry/Pixabay)

Stockholm ist die Stadt der Wacholderdrosseln. Zumindest im Frühling. Als ich diesen April dort war, zeigten die Drosseln mit den aparten grauen Kopf- und Nackenfedern in allen Grünanlagen Präsenz. Lauthals. Wenn man sie nicht sah, hörte man sie. Die sozialen Vögel, die selten alleine unterwegs sind, schwatzen ohne Unterbruch – und schimpfen. Sie machen oft einen ziemlich übellaunigen Eindruck.

Für mich verkörpert die Wacholderdrossel den Archetyp einer Drossel, wie sie der englische Dichter Ted Hughes (1930 bis 1988) im Gedicht „Thrushes“ beschrieb:

„Furchterregend sind Drosseln, wachsam und glänzend im Gras, / Mehr Stahldraht denn lebend und stets in Bereitschaft ihr dunkles, / Tödliches Auge, die zierlichen Beine, in Gang gesetzt / Von kaum spürbarer Regung – mit Ruck und Sprung und Stich / Zerren sie, schneller als der Moment, ein sich windendes Ding heraus. / Kein träges Vertragen, kein Gähnen und Starren, / Seufzen und Kopfgekratze. Nichts als ein Sprung, ein Stich / Und eine Sekunde des Prassens.“

Soeben sind ausgewählte Gedichte von Ted Hughes in einer bibliophilen zweisprachigen Ausgabe erschienen: „Wodwo“, ausgewählt und übersetzt von Jan Wagner. Zum Glück fanden auch einige von Hughes‘ Vogelgedichten Eingang.

Hughes trifft das „Wesen“ und den „Charakter“ der Vögel kongenial.

So etwa im Fall des kleinen, aber lauten Zaunkönigs, der „Alarm-Anlage des Unterholzes“ und dem „Herrscher der geringsten Hütte winterlicher Brombeeren“. Der Zaunkönig sei „ein Nervenbündel / Seit er die Sonne im Rücken eine Adlers sah“. Der Zaukönig: ein „Einsamer Beobachter. Plötzlich / Singt er, wie ein Märtyrer im Feuer: / Zungenreden.“

Oder das Gedicht „Habicht auf einem Ast“, ein Meisterwerk:

„Meine Fänge umfassen die rauhe Rinde. / Die gesamte Schöpfung war nötig, / um meine Fänge zu formen, jede Feder: / Jetzt halte ich die Schöpfung in den Klauen.“

Mein Lieblingsgedicht aber ist den Mauerseglern gewidmet:

„…Und weg sind sie / auf einem steilen / Kontrollierten Sinkflugkreischen / Um die Hausecke und unter den Kirschbäumen hindurch. / Weg. / Flimmern plötzlich am Himmelsgipfel, drei oder vier auf einmal, / Mücken-, büscheldünn, schwebsuchend, lauschen / Auf Luftfröste – sind sie zu früh…“

Hughes beschreibt die Mauersegler als „Granatsplitterschrecken“, „Froschgaffer, Fernfahrerbrillen, weltweit operierende Gangster“, die sich auf dem „Serpentinenrad des Todes“ bewegen, mit „bleierner Schnelligkeit, schmetterlingsleicht“.

Treffender geht es nicht.

Ted Hughes. Ausgewählte Gedichte. Übersetzt von Jan Wagner. Hanser Berlin 2022.

Ein Gedanke zu “Furchterregende Drosseln, weltweit operierende Mauersegler-Gangster und der Zaunkönig als Alarmanlage des Unterholzes: Vogelgedichte von Ted Hughes

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s