Wegwerfgesellschaft: Vögel müssen ihre Nester in der Stadt nicht mehr jedes Jahr neu bauen, denn Plastikabfall hält (fast) ewig

Dieses Blässhuhn (Taucherli) kann noch in natürlichem Nestmaterial brüten. (Bild: Mabel Amber/Pixabay)

Normalerweise bauen Blässhühner – in der Schweiz bekannt als „Taucherli“ – jährlich ein neues Nest. Da dieses aus Pflanzenmaterial besteht, zerfällt es rasch.

Doch nun könnte sich dieses Verhalten gerade verändern. Die Blässhühner verbauen Abfall, der kaum oder nur langsam verrottet. Vor allem Plastik ist für den Nestbau beliebt. Der ist reichlich in der Umwelt vorhanden. 79 Prozent des bisher hergestellten Plastiks liegt noch immer irgendwo auf der Erde herum, lediglich 9 Prozent wurden recycelt.

Plastikschichten im Vogelnest

Und so müssen die Blässhühner nicht mehr jedes Jahr ein Nest von Grund auf neu bauen. Ein aus Plastikabfällen bestehendes Nest kann Jahrzehnte überstehen und von mehreren Generationen bewohnt werden, wie Forscher in den Niederlanden beobachtet haben.

Anhand der auf den Plastikverpackungen eingeprägten Ablaufdaten konnten sie Geologen gleich die Geschichte der Nester Schicht für Schicht rekonstruieren. Ihre Studie haben sie in Ecology veröffentlicht.

Vor allem ein Blässhuhnnest mitten in Amsterdam hat es ihnen angetan. Es enthielt 635 künstliche Gegenstände, die einen Blick in die nahe Vergangenheit unserer Wegwerfgesellschaft erlauben.

Dieses Nest fanden die Wissenschaftler auf einem Metallpfahl unter dem Dock des Oude Turfmarkt am Rokin. Sie nannten es daher das „Rokin Nest“. Von den über 600 darin enthaltenen Abfallteilen stammte knapp ein Drittel von Esswarenverpackungen. Auf immerhin 32 dieser Teile konnten die Ablaufdaten der einst darin verpackten Lebensmittel entziffert werden.

Der älteste Abfall stammte von einer Mars-Schokoriegelverpackung, datiert von 1991.

Das „Rokin Nest“ ist daher vermutlich über 30 Jahre alt. Und es wird seit den 1990er Jahren genutzt. Denn Schicht für Schicht tauchten immer jüngere Plastikteile auf.

Wenig überraschend dominiert der Abfall von McDonalds-Produkten die zum Nest umfunktionierte Müllhalde. Weiter finden sich Bounty-, Twix- und „Kikoman Soja Sauce“-Verpackungen. Dann kam die Pandemie, und so schleppten die Blässhühner in ihren Schnäbeln Gesichtsmasken als Baumaterial an.

„Barbarische“ Verpackung

Ganz zuoberst und damit in der jüngsten Nest-Schicht tauchte wiederum die Verpackung eines Riegels auf, dieses Mal ein proteinhaltiger – mit Aroma von weisser Schokolade und Nüssen. Der bezeichnende Markenname: „Barbarian“.

Die Forscher aus den Niederlanden vermuten, dass dieses Blässhuhnnest das erste Nest ist, dessen Alter dank des darin verbauten Abfalls bestimmt werden konnte.

Offen ist, ob das neue Verhalten aus evolutionärer Sicht eher Vor- oder Nachteile hat. Auf der Pro-Seite: Nicht mehr jedes Jahr ein neues Nest bauen zu müssen, spart Ressourcen, die für anderes wie etwa die Verteidigung des Reviers eingesetzt werden können. Auf der Kontra-Seite: In einem Nest, das über Jahre genutzt wird, können sich Parasiten besser vermehren.

Was die Nestanalyse auf alle Fälle demonstriert: Im Anthropozän gibt der Nestbau nicht nur Aufschluss über das Verhalten seiner gefiederten Bewohner, sondern auch über die Vorlieben der menschlichen Umweltverschmutzer.

© Markus Hofmann

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