
Ich habe ihn immer noch im Ohr. Den Appell von Bundesrat Alain Berset während des Covid-19-Lockdowns im Frühling 2020: „Bleiben Sie zuhause.“
Der Aufruf wurde gehört. Während ein paar Wochen nahm die menschliche Mobilität massiv ab. Die noch fahrenden Züge waren fast leer. Auf den Strassen waren kaum Autos unterwegs.
Wo kaum Autos fahren, werden kaum Wildtiere überfahren. Und wo kaum Wildtiere zu Tode kommen, finden Aasfresser wie der Rotmilan keine Nahrung mehr.
Wie also reagierten die Rotmilane, die nicht nur kleine Tiere jagen, sondern auch Aas nicht verschmähen, auf solch plötzliche Veränderungen im Nahrungsangebot? Fressen sie mehr Mäuse? Diesen Fragen gingen Benedetta Catitti et. al. in der Westschweiz nach. Ihre Studie ist in „Biology Letters“ erschienen.
Für ihre Untersuchung werteten die Forscherinnen und Forscher die GPS-Daten von 199 nicht brütenden Rotmilanen aus. Diese Rotmilane waren bereits als Jungtiere im Nest mit GPS-Sendern ausgestattet worden (siehe meine Reportage: „Sie sind wieder da: Wieso die Rotmilane die Schweiz zurückerobern“). Elterntiere wurden von der Studie ausgeschlossen, weil diese in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind, müssen sie sich doch um die Jungen im Nest kümmern.
Das Gebiet der Probe umfasste 387 km2 in der Westschweiz, dicht besiedelt und durchzogen von Bahngeleisen und Strassen. Viel Verkehr und viele Strassen: Das sind ideale Voraussetzungen für Aasfresser, die von Verkehrsopfern in Form von über- und angefahrenen Wildtieren profitieren.
Doch im Frühling 2020 herrschte in der Schweiz ein Lockdown. Der Verkehr ging stark zurück, mit ihm die Kollisionen mit Wildtieren, was wiederum einen Rückgang beim Aas auf der Strasse zur Folge hatte.
Neue Nahrungsquellen gesucht und gefunden
Dies veranlasste die Rotmilane sofort, ihr Verhalten zu ändern. Im Vergleich zur Zeit vor und nach dem Lockdown suchten sie Strassen markant weniger häufig auf. Und dies obwohl zur Lockdown-Zeit natürliche Nahrungsquellen, nämlich Scher- und Feldmäuse, gerade spärlich unterwegs waren.
Ein solcher Mangel müsste die Rotmilane eigentlich erst recht zu den Strassen treiben. Aber nein: Die Rotmilane wichen auf andere menschengemachte Nahrungsquellen wie Abfälle aus.
Und dieses Verhalten hielten die Rotmilane auch nach dem Ende des Lockdowns in erhöhtem Masse bei, obwohl an den Strassen rasch wieder Kollisionsopfer im selben Umfang wie vor dem Lockdown aufzufinden waren.
Es könnte also sein, dass der von Menschen erlassene Lockdown zu einer längerfristigen Verhaltensänderung führt – zumal es sich bei den untersuchten Rotmilanen um Jungtiere handelt, die die neu erlernte Nahrungssuche in der Zukunft an ihre Nachkommen weitergeben könnten.
© Markus Hofmann